Archiv 2005 - 2001

20.11.2001

„Wir brauchen Zeit“

Pressemitteilung:Friedensdekade - Drei russlanddeutsche Frauen erzählten aus ihrem Leben

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Irene Dirks, Dr. Katharina Neufeld und Vera Miller (von links) berichteten über ihre Erfahrungen als Deutsche aus Russland. Das Gespräch moderierte Pfarrer i.R. Hans-Jürgen Meier.

Der Aussiedlerbeauftragte der Lippischen Landeskirche, Pfarrer i.R. Hans-Jürgen Meier, moderierte das Gespräch. Die Veranstaltung passte gut in den Rahmen der Ökumenischen Friedensdekade, die in diesem Jahr unter dem Thema „...fremd“ stand.
Es sind erschütternde Geschichten, die da zur Sprache kamen. Vera Miller, Jahrgang 1922, hat die Verbrechen der Deportation als kleines Kind am eigenen Leibe erlebt: wie sie mit ihrer Mutter und den vielen Geschwistern verschleppt und irgendwo in der Wildnis ausgesetzt wurde, wie die Erwachsenen bei minus 50 Grad im Wald Zwangsarbeit leisten mussten und wie sie fast nichts zu essen hatten.
Ganz ähnlich klingt, was Irene Dirks aus den Erzählungen ihrer Mutter weiß. Diese, damals ein achtjähriges Kind, habe später fast gar nicht darüber sprechen können, berichtete Irene Dirks. Doch das erzählte sie: „Wir haben uns immer gefreut, wenn eines von uns gestorben ist, weil es sich dann nicht mehr quälen musste.“ Dr. Katharina Neufeld hat die Geschichte ihrer Vorfahren wissenschaftlich erforscht. Als unter Gorbatschow eine ungeahnte Offenheit einkehrte, war es für die Historikerin „eine Offenbarung“, bis dahin totgeschwiegene Fakten ans Licht zu bringen. Sie promovierte in der Endphase der Sowjetunion. Mehr und mehr stellte sich dann die Frage: „Entweder du assimilierst dich oder du bleibst deutsch.“ Sie wollte sich nicht assimilieren, verzichtete auf eine wissenschaftliche Karriere und ist heute verantwortlich für das kleine Museum zur Geschichte der Deutschen aus Russland, das der August-Hermann-Francke Schule in Detmold angegliedert ist.
Irene Dirks, die in Kirgisien lebte, entschied sich als junge Frau bewusst für die Assimilation. Sie heiratete einen Russen, ihre Kinder erhielten russische Namen. Nach dem Ende der Sowjetunion schlug ihr eine offen feindselige Stimmung entgegen. Im neuen Staat Kirgisien wurde die Russifizierung, unter der man jahrzehntelang gelitten hatte, rückgängig gemacht. Der erwachte Nationalismus betraf auch andere Volksgruppen und drückte sich aus in Parolen wie dieser: „Russen, ihr habt Russland; Deutsche, ihr habt Deutschland.“ Irene Dirks musste Angst um ihre Kinder haben, die Pöbeleien und Misshandlungen ausgesetzt waren. Schweren Herzens gab die Lehrerin ihre geliebte Arbeit und ihren Freundeskreis auf und kam nach Deutschland. Illusionen machte sie sich nicht. Sie war nüchtern genug um vorher zu wissen, „dass die Leute auch hier Probleme haben.“
Was vermissen sie hier, was gefällt ihnen? Vera Miller vermisst nichts. Katharina Neufeld vermisst die Gräber ihrer Eltern und ihres Mannes. Irene Dirks vermisst menschliche Wärme und Offenheit, die nachbarschaftliche Nähe, die selbst in einem Wohnblock in der Großstadt Frunse vorhanden war. „Hier dagegen geht es oft über Guten Tag und Auf Wiedersehen nicht hinaus“, sagt sie, fügt aber hinzu, dass sie inzwischen auch in Deutschland sehr viele warmherzige und aufgeschlossene Menschen kennt, namentlich in ihrer Kirchengemeinde Detmold-West.
Vera Miller, die zur lutherischen Gemeinde St. Marien in Lemgo gehört, ist schlicht dankbar dafür, dass sie ohne existenzielle Sorgen leben kann: „Niemand muss hier hungern.“ Und die Rente wird zuverlässig auf das Konto überwiesen. Sie hat erlebt was Hunger bedeutet. Und sie weiß was es heißt, „wie ein Bettler“ jeden Monat in einer endlosen Schlange auf der Post um ein paar Groschen Rente anstehen zu müssen.
Wie können Deutsche aus Russland und Einheimische einander näher kommen? „Es gibt viel Angst vor dem Anderssein“, sagt Katharina Neufeld und meint dabei auch die Mitglieder der mennonitischen Gemeinde in Lage, der sie angehört. Und betont: „Wir brauchen Zeit.“

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