Archiv 2005 - 2001

26.01.2004

Verständnis, Unverständnis, Missverständnis

Pressemitteilung: Nachtkonzert in St. Marien

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Eigenwillige Collage: Ulrike Baum, Rainer Johannes Homburg und Friederike Webel (von links) beim Nachtkonzert in St. Marien.

Die zeitliche Nähe zum 27. Januar, dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, gab dem Ereignis einen Schwerpunkt: die Trauer des jüdischen Volkes um die Ermordeten der Shoa. Deshalb sangen Ulrike Baum, Friederike Webel und Rainer Johannes Homburg den Kanon „Al Nahorot Bavel“, eine Vertonung des 137. Psalms, der die Gefangenschaft Israels in Babel beklagt. Die ruhigen, sanften melodischen Bögen erfüllen den weiten Kirchenraum, den die drei, parallel durch Mittelschiff und Seitenschiffe gemessen schreitend, singend durchqueren. Später wird die Melodie, die bei aller Trauer um das zerstörte Heiligtum in Jerusalem ein tiefes Gottvertrauen ausstrahlt, leitmotivisch wiederholt.
Es folgen Poesie und Theologie: Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Steht noch dahin“: Sie beschreibt darin den unsicheren Grund, auf dem unsere Sicherheiten, Ordnungen, Gewohnheiten stehen. Elie Wiesels paradoxes Verdikt, nach Auschwitz könne es keine Theologie mehr geben: „Man kann das Ereignis niemals mit Gott begreifen; man kann das Ereignis nicht ohne Gott begreifen.“ Und das Kaddisch, das jüdische Gebet, das den Schöpfer rühmt und den Glauben verkündet. Ungewohnt feierlich klingt die deutsche Übersetzung, die Ulrike Baum klar akzentuiert vorträgt. Ungewohnt auch die musikalische Deutung des Kaddisch von Maurice Ravel, die dann in der plötzlich dunklen Kirche von der Westempore zu hören ist: Mit der Rainer Johannes Homburg an der Orgel konzertiert Friederike Webels heller Sopran.
Schließlich geht es um Freiheit, die Hilde Domin in ihrem Gedicht „Ich will dich“ viel zu „geleckt“ ist, die sie mit Schmirgelpapier aufrauen und mit Glassplittern spicken möchte, damit sie nicht mehr so glatt von der Zunge geht. Und es geht um das groteske Missverstehen zweier Dialogpartner aus verschiedenen Kulturen, deren jeder sicher ist, der andere verstünde ihn. Diese Sicherheit, die nicht über sich selbst hinaus denkt, führt – auch in Zeiten der Globalisierung – zu grotesken Kommunikationsfehlern, die fatale Folgen haben können. Die komische Seite davon illustriert ein gestisches Zwiegespräch, als Sketch vorgesepielt, zwischen einem Indianer und einem weißen Mann. Am Ende hält der eine den anderen für verrückt, während der andere sich als großer Sieger fühlt. Und darin steckt wiederum eine frappierende Wahrheit.
Ulrike Baum, Friederike Webel und Rainer Johannes Homburg haben eine eigenwillige Collage zusammengestellt. Sie spielten, sangen und rezitierten fesselnd und kurzweilig. Sie zeigten, dass überraschende inhaltliche Querverbindungen möglich sind und dass, ganz im Sinne von Dürrenmatt, ernste Themen auch mit Witz und Komik vermittelt werden können. Und sie befanden sich mit ihrem spielerisch-experimentellen Ansatz in guter Tradition der Nachtkonzerte von St. Marien.

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